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ie vergangenen Wochen haben unsere Normalitätsvorstellungen und unseren Alltag gehörig aus dem Gleichgewicht gebracht. In vielen zukunftsgewandten gesellschaftspolitischen Diskursen keimte die vorsichtige Hoffnung auf, dass das kollektive Pandemieerleben eine transformative Kraft freisetzt und die Tür für einen gesellschaftlichen Wandel - zumindest einen Spalt weit - aufstößt. Doch spätestens mit den Diskussionen zur Wiederaufnahme der Bundesliga, der schnellen Wiedereröffnung von Auto- oder Möbelhäusern oder einer neuen Abwrackprämie drängt sich nun rasch wieder die alte Normalität vor diesen Türspalt und erinnert uns daran, welche Prioritäten unsere Gesellschaft setzt und welche Maßnahmen hierzulande offensichtlich mehrheitsfähig sind. Sicher, die Bänder müssen wieder laufen. Tatsächlich hat die Krise aber schon von Beginn an offengelegt, wo die gesellschaftlichen Schieflagen besonders ausgeprägt sind und wo wir - ohne uns dagegen wirklich auflehnen zu wollen - besonders auf ihren Fortbestand angewiesen sind. Denn es ist nicht der öffentliche Applaus, den die Angestellten an der Supermarktkasse oder in der Sorge-Arbeit dringend benötigen. Es ist auch nicht die besondere Reisefreiheit, über die sich OsteuropäerInnen freuen, wenn Sie den guten Deutschen Spargel ernten. Und vor allem ist es nicht der kurze Arbeitsweg aus den Gruppenunterkünften in die hiesigen Schlachthöfe, der den Job für die rumänischen oder bulgarischen ArbeiterInnen so attraktiv macht. Wir sind wirtschaftlich darauf angewiesen, die Risiken auf uns zu nehmen, dass andere die ökologischen und sozialen Kosten für unsere Lebensweise tragen. Dabei wollen doch alle nur wieder schnell zurückkehren zur Normalität.
Lesewerkstatt 2020 - Imperiale Lebensweise: Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus
Um Normalität soll es auch in der diesjährigen Lesewerkstatt gehen. Normalität, das ist nämlich auch das, was Ulrich Brand und Markus Wissen mit dem Begriff der Imperialen Lebensweise umschreiben. Diese ist im Ansatz der beiden Autoren nicht nur eine schlichte Kritik an individuellen Wohlstandsvorstellungen des globalen Nordens und der damit verbundenen (Konsum-)Präferenzen, sondern auch ein Instrument zur Analyse und Beschreibung unserer gesellschaftlichen Institutionen. Denn diese ermöglichen es überhaupt erst, dass wir unsere persönlichen Vorlieben trotz ihrer negativen ökologischen und sozialen Folgen im inneren unserer Normalitätsgemeinschaft verwirklichen können. Die Imperiale Lebensweise ist unsere alltäglich Normalität, die alle Lebensbereiche durchdringt und deren Versprechen ein verlockendes, aber womöglich leeres Versprechen der Freiheit ist.
Die Lesewerkstatt widmet sich in sieben Sitzungen der Argumentation des Buches von den historischen Wurzeln der Imperialen Lebensweise über die aktuellen Entwicklungsprogramme unserer Gegenwart hin zu Überlegungen einer anderen, solidarischen Lebensweise.
Wir freuen uns über euer Interesse, eure Teilnahme und auf eine spannende Lektüre.